Zukunft wird gemacht!

In dem Maße wie die angebotsorientierte Wirtschafts- und Sozialpolitik in den letzten 20 Jahren auf der einen Seite Reichtum förderte, produzierte sie auf der anderen Seite Armut und soziale Desintegration. Die Glorifizierung von Konkurrenz, Leistung und Erfolg schwächte die verfassungsrechtlich wie wohlfahrtstaatlich konstitutive Solidarbereitschaft der Leistungsträger mit den benachteiligten Teilen der Gesellschaft.



In Folge der einseitigen Aufkündigung des Solidarprinzips gerieten zunächst die öffentlichen Haushalte, dann die aktuellen wie potentiellen Adressaten Sozialer Arbeit und letztendlich die Soziale Arbeit selbst unter Druck. Der labile Kompromiss zwischen Marktwirtschaft und sozialer Umverteilung wird zu Lasten der sozialen Integration benachteiligter Menschen aufgelöst: Soziale Rechtsansprüche werden delegitimiert, Empfänger sozialer Leistungen diskriminiert und die Soziale Arbeit als unnötiger -'Volkseinkommen' verschwendender- Kostenfaktor stigmatisiert. Da Armut und Reichtum die 'Kehrseiten der gleichen Medaille' darstellen, scheint es für die Soziale Arbeit sinnlos, sich mit den Folgen von Armut zu befassen, ohne zugleich Reichtum zu problematisieren. "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen", heißt es in §14.2 GG. Solange Eigentum, Reichtum und hohes Einkommen jedoch weiter dadurch realisiert werden, dass andere Menschen gezwungen sind, ihre Arbeitskraft unter Wert zu verkaufen, ist gesamtgesellschaftliche Integration und sozialer Frieden nicht denkbar.

Erst wenn die 'Gewinner' die Verantwortung dafür übernehmen, den 'Verlierern' ein menschenwürdiges Leben auf adäquat hohem Niveau zu sichern, können sie legitimerweise auch für sich selbst sozialen Frieden in Anspruch nehmen. Unterstützt durch die 'Bonner Wende' wurden das Konzept der gesamtgesellschaftlichen Integration zur Disposition gestellt und die Leistungsträger zunehmend aus ihrer Solidarverpflichtung entlassen. Dies wurde damit begründet, dass so Wirtschaftswachstum entstehen, sich Arbeitslosigkeit reduzieren, Vollbeschäftigung erreicht und Wohlstand für alle geschaffen würde.

Versetzen wir uns ins Wahljahr 1998: Die Bilanz nach 16 Jahren 'Kohl-Regierung' fiel unter sozialen Gesichtpunkten 1998 ernüchternd aus. Die Gesellschaft war sozial und die Städte zusätzlich räumlich tief gespalten, die Arbeitslosigkeit stieg ebenso steil an wie Reichtum auf der einen Seite und soziale Desintegration auf der anderen. Durch Senkungen von Löhnen sowie sozialer Mindeststandards wurden immer mehr Familien untern die Armutsgrenze gedrückt; bewahrte der Bezug von Sozialhilfe zuvor noch vor Armut, reicht er heute nicht mehr zur Überwindung der Armutsgrenze. Dank dieser Unterschreitung befinden sich Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt latent im Stress eines Existenzkampfes, der mit Vorstellungen von Menschenwürde nur noch schwer in Einklang zu bringen ist und zahlreiche Desintegrationserscheinungen zu verantworten hat. Betroffen sind v.a. Kinder von denen etwa jedes siebte als Bezieher von Sozialhilfe in seiner sozio-kultureller Teilhabe eingeschränkt ist.

Der Mythos Vollbeschäftigung dient heute allenfalls als Vorwand, beschäftigten wie arbeitssuchenden Menschen weiter Abstriche an ihrer Lebensqualität abzuringen. Die den 'neuen Bundesbürgern' versprochenen 'blühenden Landschaften lassen genau so auf sich warten, wie die Angleichung der Löhne.Die Soziale Arbeit stand also schon vor der Bundestagswahl 1998 mit dem Rücken zur Wand: Soziale Arbeit ist stigmatisiert als gesamtgesellschaftlich dysfunktional, sie gilt nun nicht mehr als Institution, die der Allgemeinheit Wohlstand sichert, sondern im Gegenteil als eine, die diesen gefährdet. In dieser Logik wurden Träger der Sozialen Arbeit flächendeckend personell wie finanziell zusammengestrichen oder gleich gänzlich abgewickelt. Ein reduziertes Hilfeangebot ist mit einem gestiegenen Hilfebedarf benachteiligter Menschen konfrontiert; dies bezieht sich sowohl auf die unmittelbar hergestellte materielle Armut, wie auch auf die aus ihr resultierenden Formen sozialer Desintegration (Überschuldung, Krankheiten, Gewalt, Kriminalität, Sucht, Demokratiepessimismus und -feindlichkeit...)

Angesichts der Bilanz von 16 Jahren christ-liberaler Bundesregierung war 1998 die Abwahl von CDU-FDP genau so verständlich, wie die Hoffnung benachteiligter Menschen und sozialpädagogischer Akteure auf Verbesserung ihrer Lebens- bzw. Arbeitsverhältnisse berechtigt; nicht zuletzt, weil Soziale Gerechtigkeit dem vorangegangenen Wahlkampf als zentrales Leitmotiv diente. Schnell wurde jedoch deutlich, dass inzwischen auch Schröders SPD soziale Gerechtigkeit in der Leistungsgerechtigkeit sucht und so mit ihrer tradierten Gerechtigkeitsvorstellung bricht: Zuvor wurde soziale Gerechtigkeit darin gesehen, dass Ressourcen von 'oben' nach 'unten' umverteilt wurden, um jenen Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, die dies aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit selbst nicht konnten. Diese Interpretation -als Verteilungsgerechtigkeit bezeichnet- wurde in der SPD nur noch von Oskar Lafontaine prägnant bis zu seinem Ausscheiden aus dem Bundeskabinett vertreten. Die Delegitimation von sozialpolitischer Umverteilung kristallisiert sich in verschiedenen Redewendungen, die als gesellschaftliche Leitnormen im kollektiven Bewusstsein Eingang gefunden haben: 'Von nichts kommt nichts!' 'Jeder ist seines Glückes Schmied!' 'Ohne Fleiß kein Preis!' 'Erst die Arbeit und dann das Vergnügen!' 'Wer arbeiten will der findet auch Arbeit!' 'Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!'..Leistungsgerechtigkeit, heute von als 'modern' zu preisen und als 'Reform' zu verkaufen, verschleiert ihren vordemokratischen Ursprung; die Interpretation von 'rot-grün' unterschied sich fortan prinzipiell nicht mehr von jener, der alten Bundesregierung:

Soziale Errungenschaften, von Bismarck eingeführt oder 1949 als Reaktion auf den Faschismus verfassungsrechtlich fixiert, wurden zur Zeit ihrer Einführung zu Recht 'modern' genannt oder als 'Reform' gepriesen. Die Reformstimmung die heute ihre Abschaffung begleitet, scheint unangemessen, führt sie doch perspektivisch ins vorletzte Jahrhundert:

"Heute scheint es so, als drohe dem 21.Jh. die Rücknahme der sozialen Errungenschaften früherer Epochen. Die sozialpolitische Postmoderne weist manch antiquierten Zug auf. Dabei handelt es sich um ein merkwürdiges Gemisch aus Mittelalterlichkeit, Manchestertum und technologisch fortgeschrittenem Turbokapitalismus, drapiert von demagogischen Parolen, die den Pioniergeist einer neuen Gründerzeit beschwören."<ref>Butterwegge 1998b: Einstürzende</ref>

Die von Butterwegge skizzierte Rückschrittlichkeit bezieht sich nicht zuletzt auch auf die Demokratie, die ohne soziale Sicherung nicht denkbar wäre.

Indem Leistung, Konkurrenz und Stärke glorifiziert und zum dominanten Kriterium für gesellschaftliche Positionierung erklärt wird, wird zugleich soziale, kulturelle und politische Ausgrenzung legitimiert, billigend in Kauf genommen und forciert. Die sozialpolitische Regression auf einem historisch längst überwunden geglaubten Niveau, wird von der Regierung Schröders heute mit den gleichen Begründungen; mit den gleichen sozialen Einschnitten; mit den gleichen sozialen Desintegrationsfolgen.vollzogen, wie in den 16 Jahren unter der Regierung Kohls. Soziale Sickerungseffekte werden für den Fall versprochen, dass es der Wirtschaft gut ginge.Nachdem sich aber die ökonomische Lage von Ökonomie und wohlhabenden Bundesbürgern seit 16 Jahre kontinuierlich verbessert hatte, warteten sozial benachteiligte Menschen, sowie mittlere und Einkommensgruppen auf die versprochenen Sickerungseffekte; auch 'rot-grün' enttäuscht bisher jegliche Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit.

Für die Zeit nach der Wahl 2002 wurden endlich die großen Reformen angekündigt, die Vollbeschäftigung und Wohlstand für alle sichern sollten: Aufweichung von Tarifverträgen und Schaffung zusätzlicher Möglichkeiten zur untertariflichen Bezahlung, Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf Sozialhilfeniveau, Reduzierung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld, Streichung von Krankengeld, Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien, Senkung von Sozialhilfe und Renten, Versteuerung von Renten, Erhöhung der Zuzahlung für Arzneimittel, Herausnahme von Zahnersatz aus der Krankenversicherung.sind Eckpunkte der Reformen, die seit Anfang 2003 verstärkt diskutiert werden.



Um der Unseriosität den I-Punkt aufzusetzen, wird zudem erneut der Mythos 'Vollbeschäftigung' bemüht, obwohl sich seriöse Sozial- wie Wirtschaftswissenschaftler darüber einig sind, dass Vollbeschäftigung unrealistisch ist und deshalb gesellschaftliche Integrationsmodelle unterhalb von Vollbeschäftigung zu suchen sind. Die Machbarkeit wird allein deshalb weiter suggeriert, um gleichermaßen arbeitssuchenden wie arbeitenden Menschen vorhalten zu können, wegen vermeintlich überhöhter Ansprüche dem Allgemeinwohl zu schaden, Massenarbeitslosigkeit zu verantworten und die gesamtgesellschaftlichen Krise zu verschulden. Sie sollen soziale Besitzstände preisgeben, um Unternehmen und Unternehmer zu entlasten, damit es später -diesmal aber wirklich- allen wieder gut geht.Nachdem die angebotsorientierte Sozial- und Wirtschaftspolitik seit nunmehr 20 Jahren Arbeitslosigkeit und Soziale Spaltung produziert, soll die Krise nun ausgerechnet mit dem gleichen Konzept überwunden werden, das ihr ursächlich zugrunde liegt. 'Neu' und 'modern' sind allenfalls Geschwindigkeit und Tiefe, wie benachteiligte Menschen und Institutionen be- und privilegierte entlastet werden sollen. Diese Strategie scheint unlogisch...

Spätestens Anfang 2003 muss jedem Akteur der Sozialen Arbeit deutlich geworden sein, dass auch die SPD die Zukunft des Sozialstaates in seiner Demontage sieht und soziale Desintegration billigend in Kauf nimmt. Selbst wenn die Pläne der Bundesregierung zum Um/Abbau des Sozialstaates nicht in Gänze umgesetzt werden, ist die Weichenstellung zu Lasten unseres Klientels und unseres Berufes eindeutig. Die Soziale Arbeit hat einen Punkt erreicht, wo sie ihre originäre Aufgabe -zum Wohle ihres Klientel dessen Lebenslage zu verbessern- nicht mehr erfüllen kann. Lässt sich dieser Punkt konkret auch nur schwer benennen, ist er theoretisch nicht zu leugnen; wird er überschritten, ist Soziale Arbeit nicht mehr 'Soziale Arbeit', sondern eine Form von obrigkeitsstaatlichem Ordnungsdienst. Die Annährung an diesen Punkt vollzieht sich schleichend derart, dass das Wohl des Klientels zunächst in den Hintergrund tritt, dann gänzlich unter den Tisch fällt, später auch offiziell aberkannt wird und Soziale Arbeit abschließend, seinem Klienten sogar schadet. Fehlt der politische Wille, die angebotsorientierte Wirtschafts- und Sozialpolitik einzustellen und Reichtum zu beschneiden, um Lebenslagen unseres Klientels zu stabilisieren und der Sozialen Arbeit die notwendigen Ressourcen zu Verfügung zu stellen, kommen die Akteure der Sozialen Arbeit nicht umhin, ihre Profession politisch zu verstehen.

Der schleichende Prozess des Sozialabbaus, die Überforderung der Praktiker durch ihren Arbeitsalltag, die Distanz der Hochschulen zur Not von Mitarbeitern und Klienten in der Praxis, sowie die eigenen Existenzängste aller Beteiligten erschweren jedoch die Bildung eines Bewusstseins dafür, dass heute nur noch ein 'Empowerment in eigener Sache' (s.o.) mit dem Ziel der Veränderung bundespolitischer Weichenstellungen, dem Wohle benachteiligter Menschen gerecht werden kann. Anderenfalls beteiligt man sich nicht nur an der Diskreditierung bzw. Abschaffung Sozialer Arbeit, sondern unterstützt die gesellschaftliche Spaltung unter Preisgabe des allgemeinen Rechtsanspruches auf ein menschenwürdiges Leben. Oben wurde erläutert, dass Soziale Arbeit immer auch die Funktion von Normalisierung und Systemstabilisierung, also Integration hat, es aber eine Frage des Niveaus sei, ob diese Funktion wahrgenommen werden sollte. Schon auf dem heutigen Niveau scheint fraglich, inwieweit unserem Klientel die Integration in bzw. Unterordnung unter die gesellschaftliche Normalität zuzumuten ist.

Da die Erwartung einer einseitigen Anpassung des Individuums an sozial ungerechte Rahmenbedingungen immer stärker Legitimität einbüßen wird, könnte sich die Soziale Arbeit auch schon heute dem Prozess der Sozialstaatsdemontage verweigern und sich stattdessen darum bemühen, (Sozial-) Geschichte selber zu gestalten'! Integration bzw. Systemstabilisierung in kapitalistischen Konkurrenzgesellschaften auf dem unserem Klientel heute zugedachten Niveau, kollidiert nicht zuletzt mit dem berufsethischen Fundament der Sozialen Arbeit. Unsere Aufgabe kann nicht die Anpassung unseres Klientels an das gesenkte Niveau sein, sondern muss die Anpassung des Niveaus an die Bedarfe unseres Klientels sein. Diese Aufgabe ist eine politische! Erst in einem zweiten Schritt macht es wieder Sinn, sich auf methodische oder didaktische Fragen zu konzentrieren. Geschichte selbst zu gestalten kann in letzter Konsequenz auch heißen, zugewiesene Aufgaben abzulehnen, wenn die nötigen Rahmen- und Arbeitsbedingungen nicht gewährleistet sind oder Soziale Arbeit auf die individuelle Symptombekämpfung reduziert wird und ihr die ursacheorientierte präventive Mitarbeit verweigert wird. Die heutigen sozial- und gesellschaftspolitischen Weichenstellungen führen -zuendegedacht- in eine Zukunft, die an das Gesellschaftsmodel des Absolutismus erinnert:

Marktwirtschaft:
Oberste Instanz: Große Koalition programmatisch austauschbaren Volksparteien regiert einen Autoritär-kontrollierenden Nachtwächterstaat; demokratisch jedoch auf Basis geringer Wahlbeteiligung konstituiert
Soziale Regulierung: Einerseits hohe, von Sozialabgaben befreite Einkommen und private Sozialversicherungen; andererseits Selbst-, Familien- und Nachbarschaftshilfen; kollektive Interessenvertretungen (Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände) spielen kaum mehr eine Rolle); autoritäre Erziehung und Umerziehung sekundärer Sozialisationsinstanzen
Integrationsmittel:Polizei, Justiz, Misstrauen und Denunziation, Angst, emotional unterfütterte kollektive und symbolische Kämpfe gegen konstruierte Bedrohungen
Andere Soziale Hilfen: keine relevanten

Diese Zukunft zu verhindern sind alle Akteure der Sozialen Arbeit aufgefordert; Ansatzpunkte dafür, wie dies auf diskursivem Wege geschehen kann, sollen die folgenden Ausführungen geben. Zukunft wird gemacht!






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